Eine spektakuläre Fluchtgeschichte

Zeitzeugenführung mit Hartmut Richter entlang des Teltowkanals

REGION.  Rund um den Tag der Deutschen Einheit fanden entlang des Teltowkanals zwischen Stahnsdorf und Kleinmachnow Führungen mit einem besonderen Zeitzeugen der deutsch-deutschen Teilung statt. Hartmut Richter schritt mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Strecke ab, die er im August 1966 schwimmend zurücklegte, um aus der DDR in den „Westen“ zu fliehen.

Hartmut Richter, Jahrgang 1948, war bereits früh mit dem Staatsapparat in Konflikt geraten. Obwohl er Jung- und auch Thälmann-Pionier war, trat er nicht in die „Freie Deutsche Jugend“ ein. Seine Eltern rieten ihm „mit dem Strom zu schwimmen und mit den Wölfen zu heulen“, wie er berichtet. „Doch die Stiefel zu küssen, die mich traten, das war meine Sache nicht.“

Nach einem gescheiterten Fluchtversuch über die ehemalige CSSR im Februar 1966 kam Richter in Haft. Einer seiner Mitgefangenen half als Mitglied der Kampfgruppen bei der Abriegelung West-Berlins entlang des Teltowkanals. Ihm verdankte Richter die wertvollen Tipps, die ihm in der Nacht vom 27. zum 28. August 1966 die Flucht ermöglichten. Kurz vor Mitternacht stieg der damals 18-Jährige auf Höhe der alten Friedhofsbahn-Brücke in den zu der Zeit mit reichlich Schilf bewachsenen Teltowkanal. Dort begann der Grenzstreifen mit einem System aus Sperrzäunen, Stacheldraht, Wachhunden an Langlaufleinen oder im großzügigen Laufgatter und breiten, fein geharkten Sandstreifen, die jede Fußspur deutlich erkennen ließen.

Im Wasser bewegte sich der geübte Schwimmer nur tauchend fort. Im Zickzack, von einem schwach beleuchteten Uferabschnitt zum anderen, glitt Hartmut Richter lautlos durch das Wasser und beobachtete jeweils genau, ob sich in seiner Umgebung etwas tat. Einen Kilometer musste er so zurücklegen und hatte etwa 20 Minuten eingeplant. Doch am Ende wurden es vier Stunden, denn je näher er der tatsächlichen Grenze kam, desto mehr häufiger wurde das Hundegebell. Außerdem kosteten ihn mehrere nicht eingeplante Situationen Zeit. So tauchte er einmal ruhig auf und hörte ein furchtbares Fauchen, was ihn so erschreckte, dass er mit halb voller Lunge den nächsten Tauchgang an die gegenüberliegende Seite antrat. Wie sich herausstellte, war es jedoch nur ein Schwan, den er nachts in seiner Ruhe störte. „Wirklich brenzlig wurde es aber, als ich vor der ehemals über den Teltowkanal führenden Holzbrücke nahe dem alten Kontrollpunkt Dreilinden auftauchte.“ erzählt Richter sichtlich gerührt. Die Holzbrücke steht heute nicht mehr und auf der alten Autobahnbrücke am Kontrollpunkt wachsen heute Birken und Sträucher. Damals jedoch patrouillierten dort regelmäßig Grenzsoldaten mit ihren Wachhunden an der Leine. „Der Wachhund nahm sofort wahr, dass ich aufgetaucht war und schlug an. Doch die Grenzer beruhigten ihn mit ihrem breiten Sächsisch.“ berichtet Richter und kann schon wieder schmunzeln. „Trotzdem, Sie müssen sich das vorstellen, war ich so erschöpft, nach fast vier Stunden im Wasser, dass ich mir auf die Hand beißen musste, damit mich meine klappernden Zähne nicht verraten.“

Die letzte und entscheidende Hürde war schließlich ein Grenzzaun unmittelbar vor der alten Autobahnbrücke, der im Boden fest verankert, drei Meter über die Wasseroberfläche reichte. Hartmut Richter legte alles auf eine Karte und kletterte im Schatten eines Wachturmes über den ansonsten im hell erleuchteten, unmittelbaren Grenzgebiet stehenden Zaun nach West-Berlin. Vollkommen entkräftet und nur mit einer Hose gekleidet lief er Richtung Albrechtsteerofen und traf auf eine Frau, die unmittelbar in der Nähe des Grenzübergangs ihr Auto geparkt hatte und dort die Nacht verbrachte. „Nach erstem Schreck, weil ich dort fast nackt und bibbernd an ihre Scheibe klopfte, fragte sie mich, ob ich aus dem Osten geflohen sei, und als ich nickte, drückte sie mich an sich und ich verlor das Bewusstsein.“

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Führung lauschten gebannt und nutzten bei jedem Stopp die Möglichkeit, sich selbst in die geschilderten Situationen hineinzuversetzen. Gerade die Jüngeren, die die deutsche Teilung nur aus dem Geschichtsbuch kennen, konnten so ein ganz anderes Verständnis von staatlicher Unterdrückung und dem Wunsch nach Freiheit aufbauen.

Interessierte können entlang der ehemaligen Grenze zwischen Kleinmachnow und Potsdam selbst auf historische Spurensuche gehen. Vom Europarc Dreilinden bis in die Landeshauptstadt stehen neben den Gedenksäulen für die getöteten Maueropfer auch Fotos der ehemaligen Grenzanlagen, die die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und die Karl-Hamann-Stiftung für liberale Politik im Land Brandenburg gemeinsam mit der Stiftung Berliner Mauer dort aufgestellt und mit Erläuterungen zum Grenzverlauf versehen haben. Alle Informationen zu diesem Projekt finden Sie unter: https://www.mauer-fotos.de/projekte/ausstellungen/grenzzone/

Wenn Sie an einer kostenlosen Führung entlang des Teltowkanals teilnehmen oder eine Schulklasse bzw. einen Betriebsausflug anmelden möchten, können Sie dies per Mail an martin.fischer@freiheit.org tun.

Martin Fischer (Naumann-Stiftung)

Bild: Führung auf der Fluchtroute, vlnr. Martin Fischer, Hartmut Richter, unbekannte Frau, Hans Jürgen Klein  (Foto Kü)

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