„Gott kann die Geschichte nicht ändern, das können nur Historiker.“ Dieses Zitat von Samuel Butler soll wohl bedeuten, dass Geschichte immer wieder neu interpretiert und gesehen wird. Und tatsächlich war die Sicht auf den 8. Mai anders vor 50 Jahren als heute und wird sich weiter verändern. Während in Ostdeutschland die große Erzählung der Befreiung am 8. Mai, die von der Sowjetunion induziert wurde, dazu führte, Nazis nur noch in Westdeutschland zu verorten, um sich so der Schuldfrage zu entledigen, machte das Märchen von der Stunde Null in Westdeutschland die Runde. Damit war gemeint, dass am 8. Mai ein bedingungsloser Neuanfang gemacht worden wäre, obwohl in Wirklichkeit das Dritte Reich personell und wirtschaftlich in die Bundesrepublik hineinragte.
Man sieht also, wie der Mythos Kriegsende die einen zu befreiten Antifaschisten ummodelte und die anderen zu Menschen ohne Vergangenheit. Beides half sicher, erst mal mit der Lage klar zu kommen. Mit Wahrheit hatte das allerdings wenig zu tun. Auch später machte man den 8. Mai fruchtbar durch politischen Erzählungen. So wurde der Tag in Gesamtdeutschland der Schlusspunkt einer historischen Entwicklung, die nach einer neuen Lesart zwangsläufig auf Hitler zulief. Das Kriegsende wäre demnach der Turning Point für ein besseres und vor allem europäisches Deutschland.
Doch schon in 20 bis 30 Jahren wird der 8. Mai in vielerlei Hinsicht wieder anders betrachtet werden. Allein die Tatsache, dass die Erlebnisgeneration schon in wenigen Jahren nicht mehr existiert, ist in diesem Zusammenhang bedeutsam. Ebenfalls wichtig: Deutschland ist ein Land, in dem schon jetzt fast 45 % aller Kindern unter drei Jahren Migrationshintergrund haben. Das wird auch Folgen haben für die hiesigen Geschichtserzählungen. Dass der Tag vergessen wird, ist ausgeschlossen. Aber – vielleicht eine schmerzhafte Erkenntnis für manche – das Leben geht weiter und überschattet am Ende auch die wichtigsten historischen Daten. Und so verwandelt sich dieser Tag eben nicht nur, er setzt auch Patina an. Von nun an Jedes Jahr ein wenig mehr.
Christian Kümpel